Die Atlantis-Theorie des Étienne-Félix Berlioux

von Alexander Bessmertny (1932)

Abb. 1 Das Atlasgebirge auf einem Satellitenbild der NASA. Nach Étienne-Félix Berlioux befand sich das Zentrum des Atlantier-Reiches im Westen des Gebirges in der atlantischen Küstenregion des heutigen Marokko.

Schon 1868 suchte Godron die ursprüngliche Lage von Atlantis in der Sahara nachzuweisen. Nach ihm begann 1874 Étienne-Félix Berlioux mit einer Reihe von Publikationen, in denen er Atlantis in der Gegend des Atlasgebirges (Abb. 1), einer heute noch sehr reichen und fruchtbaren Landschaft, gefunden haben wollte. Berlioux bemerkt zunächst, wenn Plato im "Timaios" der Atlantis eine Ausdehnung wie Afrika und Asien zusammen zuschreibt, so gibt er im "Kritias" denselben Namen einer Insel, die viel kleiner ist, denn er sagt, daß der Kanal, der sie vom Festlande trennt, nicht mehr messe als 10000 Stadien = 1800 km. Er schließt daraus, daß das Wort "Atlantis" erstens das weite Reich bezeichnen könnte, das die Atlantier in Europa und Afrika mittels ihrer Macht erobert hätten, und dass zweitens "Atlantis" einfach der ursprüngliche Hauptsitz der Atlantier sei, der Sitz und der Mittelpunkt ihrer Herrschaft.

Berlioux findet die Berge wieder, die nach der Erzählung des Kritias der Fabelinsel als Gürtel dienten: "Diese Berge ohne ihresgleichen an heute an Zahl, Göße und Schönheit". Sie erheben sich auf der Seeseite von Marokko zwischen dem Cap Ghir und dem Cap No(u)n, fast gegenüber den Kanarischen Inseln und erreichen oft, nach der Schätzung eines neueren Forschers, Lenz, Höhen von 3500 - 4000 m. Zur Zeit Platons und früher noch, hatten die Griechen nur sehr ungenaue Vorstellungen über die Höhe der Berge von Europa und selbst über die Alpen, und es ist begreiflich, daß sie das Atlasmassiv als die höchsten Spitzen der Erde angesehen haben. Zu Füßen dieser weißen Firnen haben die glücklichen Atlantier ihre Hauptstadt errichtet,die Plato nicht kennt, die aber Diodor mit "Cerne" bezeichnet.

Abb. 2 Ein Dorf der Berber - nach É.-F. Berlioux Nachfahren der afrikanischen Atlantier - im Imlil-Tal des Hohen Atlas, Marokko (Foto: Luc Viatour)

Was die Zerstörung von Atlantis in einem einzigen Tag und einer einzigen Nacht durch ein gleichzeitiges Erd- und Seebeben angeht, so wird dieses viel wahrscheinlicher, wenn es sich nicht mehr um einen so riesigen Erdteil, sondern um eine Insel handelt, die wahrscheinlich durch die Deltas des Oued-Draa gebildet wurde. Weiter erzählt Berlioux: die Atlantier seien durch ihre nordöstliche Heimat, aus der sie durch aufeinanderfolgende Auswanderungen gekommen seien, die nächsten Verwandten der Kelten und der Pelasger.

Nachdem sie sich zu Füßen des Atlas niedergelassen hatten, sollen sie ihre Herrschadt vom goldhaltigen Bassin des Hautsénègal bis zu den britischen Inseln, von Spanien und Gallien bis nach Norditalien und Tyrrhenien ausgebreitet und in allen diesen Ländern megalithische Monumente zum Zeichen ihres Durchmarsches zurückgelassen haben. Außerdm glaubt Berlioux, die Atlantier mit den Libyern und den Lebus in Ägypten identifizieren zu können, die so oft das Nildelta überschwemmt haben und von den Künstlern der Pharaonen als Leute mit weißer Haut, blonden Haaren und hellen Augen beschrieben sind.

Die Lebus, die kühne Seefahrer und unermüdliche Reiter waren, haben sich mit anderen Völkern der selben Rasse vermischt: den Sarden, den Achäern, den Pelesten von Kreta, den Dardanern in Troja, und haben innerhalb dreier Jahrhunderte wiederholt versucht, den Ägyptern und Phöniziern ihr Land zu entreißen. Einmal haben sie das Delta erobert und kolonisiert und Ramses II. brauchte seine ganze Energie, um sie wieder hinauszutreiben und zu unterwerfen.

Abb. 3 Eine altertümliche Berber-Familie auf Wanderung bei der Überquerung einer Furt (Bild: Stich aus dem 19. Jahrhundert)

Das ganze orientalische Mittelmeer war der Schauplatz dieses großen Kampfes: die Ägypter und ihre Verbündeten besetzten den Archipel und alle strategischen Positionen der hellenischen Küsten. Ohne Zweifel mußte die attische Garnison die Atlantier bekämpfen und hat mit Hilfe der eingeborenen Bevölkerung jenen Sieg davongetragen, den Solon und Plato als den ersten Kampf und Triumph der Athener feiern.

Die Sieger ergriffen nun ihrerseits die Offensive und haben bald die Lebus in ihrer Heimat zu Wasser und zu Land angegriffen. Die Flotten von Sidon landeten an ihren Küsten; die Getules von hamitischer Rasse, Vorahnen der jetzigen Berber, die zuerst ein Nomadenleben am Rande der großen Wüsten führten, dringen ein und unterjochen alle Gruppen der afrikanischen Aryos. Die furchtbare Katastrophe, die Cerne und die Insel Atlantis vernichtete, geschah gerade zu dieser Zeit und vollendete den Untergang.

Die Atlantier verschwinden als eigenständiges Volk, aber leben noch heute in sehr kleiner Anzahl inmitten der Sieger und sind an ihrem unveränderlichen körperlichen Typus zu erkennen. Die Menschen mit hellen Augen und blonden Haaren, denen wir zum Teil in den Bergen Algiers begegnet sind, sind die Nachkommen der ehemaligen Herrscher über Afrika und Europa.

Es ist bemerkenswert, daß die französische "Grande Encyclopédie", die in ihrem von E. Salone verfaßten Artikel diese Ausführungen über Berlioux´ Theorie bringt, mit den Worten schließt: "Wenn Berlioux mit seinen Ansichten recht hätte, wäre ein wichtiger Punkt unserer geschichtlichen Tradition modifiziert. Man dürfte nicht mehr die Berber als die Einwohner von Nordwestafrika ansehen; dieses schöne Land wäre ursprünglich gewesen, was es heute wieder wird: Eine der Domänen der indo-europäischen Rasse."


Anmerkungen und Quellen

Dieser Beitrag von Alexander Bessmertny wurde seinem Buch "Das Atlantisrätsel - Geschichte und Erklärung der Atlantishypothesen" (Kapitel: "Atlantis in Nordafrika", S. 42-44) entnommen, das 1932 im Verlag R. Voigtländer, Leipzig, publiziert wurde. Bei Atlantisforschung.de erscheint er in einer redaktionell bearbeiten Online-Fassung als wissenschaftsgeschichtliche und atlantologie-historische Dokumentation zu Studien- und Forschungszwecken.

Bild-Quellen:

1) Levade bei Wikimedia Commons, unter: File:AtlasRange.jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
2) Luc Viatour (Lucnix.be) bei Wikimedia Commons, unter: File:Maroc Atlas Imlil Luc Viatour 4.jpg (Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)
3) o.A. bei Wikimedia Commons, unter: Berber (Lizenz: Creative Commons Attribution-ShareAlike)