Kleider machen Leute: Ein neues Bild des 'Urzeitmenschen'
Zur obsoleten Vorstellung 'primitiver' Wilder der jüngeren Altsteinzeit
(bb und fs) Obwohl in den jüngsten Jahrzehnten bereits eine Fülle harter Evidenzen zur Stützung der Annahme erbracht wurde, dass eine ganze Reihe wesentlicher kultureller Errungenschaften der Menschheit weitaus früher gemacht wurden als allgemein angenommen, finden diese neuen Erkenntnisse kaum einen nennenswerten Niederschlag im schulwissenschaftlich propagierten Bild der Urgeschichte bzw. in dessen populärwissenschaftlich gehaltenen Präsentationen.
Wesentlich für das vorherrschende Zerrbild der Menschen des oberen Paläolithikums ist ihre Darstellung als halbnackte, lediglich mit kruden Fellfetzen bekleidete 'Wilde'. (Abb. 1) Dabei wäre diesbezüglich bereits Mitte der 1930er Jahre mit der Entdeckung der Höhle von La Marche ein gründlicher Umdenkprozess angezeigt gewesen. Bei dieser Höhle im Westen Frankreichs handelt es sich um eine bemerkenswerte archäologische Fundstätte mit Relikten aus dem mittleren Magdalénien (ca. 16.000 bis 14.000 BP). Genauer gesagt, fand sich dort eine riesige Sammlung kleiner Steintafeln mit Abbildungen von Tieren und Menschen, wobei letztere Darstellungen keineswegs 'Wilde', sondern kultivierte, zum Teil wohl frisierte und in sorgfältig geschneiderte Kleidung gehüllte, durchaus zivilisiert erscheinende Personen zeigen.
Es ist kein Wunder, dass die erstaunlich modern wirkenden Darstellungen 'altsteinzeitlicher' Menschen aus der Höhle von La Marche nach ihrer Entdeckung bei zeitgenössischen Fachwissenschaftlern zunächst auf Ablehnung stießen und sogar als Fälschungen bezeichnet wurden. In den folgenden Jahrzehnten wurde zwar immer deutlicher, dass diverse Kulturen des oberen Paläolithikums über vergleichbare Fähigkeiten in der Fell- und Lederbearbeitung (Abb. 2) verfügten wie z.B. moderne Indianer im Norden des amerikanischen Doppelkontinents, doch auf die wissenschaftliche Darstellung der Menschen jener uralten Kulturen in populärwissenschaftlichen Dokumentationen hatte dies kaum einen nennenswerten Einfluss.
Zudem wurde noch bis vor wenigen Jahren in Abrede gestellt, es könne bereits während der jüngeren Altsteinzeit so etwas wie aus Textilfasern gewobene Kleidung gegeben haben. In Fachkreisen war man der Meinung, dass dies eine Errungenschaft der frühen sesshaften Bauern war, die sich erst im Verlauf der so genannten Neolithischen Revolution während der jüngsten 10.000 bis 5.000 bis Jahre entwickelt habe.
Die Weber/innen des Gravettien
Dass auf Webstühlen gewobene Kleidung in Europa [1] jedoch bereits vor mindestens 27.000 Jahren, im Zeitalter des Gravettien hergestellt wurde (Abb. 5), entdeckte um das Jahr 2000 herum Prof. Olga Soffer von der Universität Illinois bei ihrer Feldforschung im Gebiet des heutigen Tschechien. Ihre Befunde veröffentlichte sie nachfolgend in der Zeitschrift „Current Anthropology“ [2], worüber dann u.a. Dr. David Whitehouse, Wissenschaftsredakteur der BBC News Online berichtete. [3]
Natürlich war Prof. Soffer bei ihren gründlichen Untersuchungen spätpaläolithischer Fundstätten nicht auf die Textilien selbst gestoßen, die keine Chance hatten, den archäologischen 'Vergänglichkeits-Horizont' zu durchdringen: sie sind in den vergangenen Jahrtausenden zumeist komplett verrottet. [4] Vielmehr beruhen ihre Erkenntnisse, wie dem Artikel von Whitehouse zu entnehmen ist, zum einen auf der Interpretation von zeitgenössische Menschen abbildenden Statuetten aus dem Fundgut (sie erwähnt z.B, dass eine 25.000 Jahre alte Figurine einen Menschen abbildet, der einen gewobenen Hut trug) - eine inzwischen durchaus übliche Praxis in der Urgeschichtsforschung (Abb. 3), die freilich nicht wirklich evident ist.
Beweiskräftig erscheinen dagegen die, von ihr bei ihren Grabungen in Tschechien gesammelten, über 90 Fragmente aus Ton mit Abdrücken von gewobenen Fasern. (Abb. 4) Diese Fundstätten waren einst "das sporadische Zuhause der Menschen des Gravettien, die vor 29.000 bis vor 22.000 Jahren zwischen Südrussland und Spanien lebten und sich in einer halbgefrorenen Landschaft ihren Lebensunterhalt erarbeiteten." [5]
Einige "der Faserabdrücke könnten", wie es bei Whitehouse weiter heißt, "zufällig zustande gekommen sein, zum Beispiel durch das Sitzen auf frischem Lehmboden oder beim Tragen von feuchtem Lehm in gewobenen Taschen. (Abb. 4, links) >Andere Abdrücke können absichtlich gemacht worden sein, zum Beispiel durch die Auskleidung eines Korbes mit Lehm (Abb. 4, rechts), um ihn wasserdicht zu machen<, sagte Professor Soffer. Die genaue Untersuchung der Abdrücke enthüllte eine große Breite an Webtechniken. Es gibt offene und geschlossene Garne, Leinenbindung und Netze. Prof. Soffer sagte BBC News Online, dass das Spinnen von Hand gemacht werden kann, aber zum Weben war ein Webstuhl erforderlich. Es ist möglich, dass viele Steinartefakte, die in Siedlungen gefunden wurden nicht, wie angenommen, Kunstobjekte sind, sondern Teile eines alten Webstuhls, der nun als die erste Maschine, die nach dem Rad und andere Hilfsmitteln wie der Axt, der Keule und dem Flintmesser gemacht wurde, erachtet werden sollte." [6]
Konsequenzen für unser Bild der Urgeschichte
Was die notwendigen Konsequenzen betrifft, welche die universitäre Urgeschichtsforschung aus den Entdeckungen von Soffer et al. eigentlich ziehen müsste, äußert Whitehouse sich quasi 'handzahm': "Die Forschung könnte eine Neubetrachtung unserer Sicht des frühen Menschen, der vor Jahrzehntausenden lebte, erforderlich machen; zu einer Zeit, bevor die Eiszeit endete und vor der Erfindung der Agrikultur. [Sic!; d. Red. [7]] Die traditionelle Sicht ist die des männlichen Eiszeitjägers, der in Gruppen große Tiere wie das Mammut jagte. Sie mag jedoch eine verfälschte und unvollständige Sicht ihres Lebens sein. Alles, was Wissenschaftler aus diesen alten Zeiten haben, sind zumeist physische Reste, wie Stein, Elfenbein und Knochen. Jetzt haben sie auch den Beweis von Textilien. Die Entdeckung, dass sie schon vor 27.000 Jahren das Weben entdeckten, bedeutet, dass wir die Rolle von Frauen und Kindern anders betrachten müssen." [8]
Tatsächlich rütteln sowohl die Archäologin als auch der Wissenschaftsjournalist kaum an besagter "traditionelle[r] Sicht". Offenbar projizieren Soffer und er lediglich moderne patriarchalische Muster und Vorstellungen zu geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung auf die cro-magnoide Kultur des Gravettien: "Die Möglichkeit, dass sie Netze herstellten, hat nach Prof. Soffer interessante Konsequenzen. Es könnte sein, dass Netze von Frauen und Kindern benutzt wurden, um kleine Beutetiere, wie Hasen und Füchse zu fangen. Durch den Erwerb von Nahrung auf diese Weise könnten Frauen und Kinder wesentlich zu ihren Gemeinschaften beigetragen und einen Überschuss ermöglicht haben, der der Gemeinschaft ein Wachstum erlaubte. In diesem Bereich sind weitere Entdeckungen zu erwarten." [9]
Ob sich die - augenscheinlich zumindest in ihrer Spätphase bereits nicht mehr in toto als reine 'Jäger und Sammler'-Gesellschaft zu begreifende - Kultur des Gravettien nach einem so simplen Strickmuster, wie >Die Männer ziehen speerschwingend auf die Großwildjagd, die Frauen bleiben zuhause am Webstuhl, sammeln Kräuter und Beeren, fangen harmlose Kleintiere und versorgen den Nachwuchs< verstehen lässt, darf - auch angesichts der vielen, eine ganz besondere Verehrung nahelegenden Frauen-Figurinen (Abb. 7) aus dieser Periode - bezweifelt werden. Um hier zu einem tieferen Verständnis und halbwegs gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, wird es wohl noch einer langen Zeit ergebnisoffener polydisziplinärer Forschung bedürfen, aber gerade in Bezug auf die Ergebnisoffenheit lässt die Arbeit schulwissenschaftlicher Monopol-Wissenschaft im Allgemeinen leider noch stark zu wünschen übrig.
Die Konsequenz, die sich für die unabhängige Privatforschung außerhalb und am Rand des universitären Bezirks einerseits aus den oben geschilderten Entdeckungen und andererseits aus besagter fachwissenschaftlicher Erkenntnisresistenz ergibt, ist naheliegend: Ihr obliegt die Aufgabe, das tatsächlich gar nicht so 'steinzeitliche' Bild der Menschen des späten Paläolithikums einer interessierten Öffentlichkeit gegenüber insbesondere dadurch zurecht zu rücken, dass unsere fernen Vorfahren nicht lämger als zerlumpte Gestalten mit verfilztem Zottelhaar präsentiert werden. Schließlich ist es nun einmal - um auf die Überschrift dieses Beitrags zurückzukommen - ein unbestreibares Faktum: Kleider machen Leute! Und von daher dürfte es den meisten von uns weitaus leichter fallen, solchen kultiviert daherkommenden Paläolithikern auch astronomische Beobachtungen [10], entwickelte medizinische Kenntnisse [11], beachtliches nautisches Vermögen [12], die Entwicklung von Glyphen und anderen Symbolen zur Informations-Übermittlung [13] und kartographische Fähigketen [14] usw. zuzutrauen als jenen 'traurigen Gestalten', denen wir noch immer in Schulbüchern, in Museen und Ausstellungen oder auch im Internet begegnen.
Anmerkungen und Quellen
Fußnoten:
- ↑ Anmerkung: In Westasien scheinen die frühesten Anfänge der Produktion von Textilien sogar ca. 32.000 Jahre zurückzureichen. Siehe: Bruce Bower "Stone Age twining unraveled - New finds suggest that people used plant fibers for sewing and other purposes in western Asia by 32,000 years ago", in: Science. Band 11, September 2009. (Quelle: Wikipedia, Stand: 13. April 2016)
- ↑ Siehe: Olga Soffer, "Recovering perishable technologies through use wear on tools - Preliminary evidence for Upper Paleolithic weaving and net making", in: Current Anthropology. Band 45, Nr. 3, Juni 2004, S. 407–413
- ↑ Siehe: Dr. David Whitehouse, Woven cloth dates back 27,000 years, 14. Juni 2000, bei BBC NEWS Online (abgerufen: 12. April 2016)
- ↑ Anmerkung: Immerhin erwähnt Whitehouse (op. cit.) beiläufig auch "jüngere Berichte, dass Fragmente verbrannter Textilien, die an Flintstücken anhafteten, gefunden wurden."
- ↑ Quelle: Dr. David Whitehouse, op. cit. 2000 (abgerufen: 12. April 2016; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
- ↑ Quelle: ebd.
- ↑ Anmerkung: Tatsächlich scheint auch die Agrikultur in ihren Frühformen (so etwa der Gartenbau) bereits in der jüngeren Altsteinzeit entstanden zu sein. Siehe dazu bei Atlantisforschung.de: R. Cedric Leonard, "Beweise für ein hohes Alter der Landwirtschaft - Wurde sie bereits zu Zeiten von Atlantis praktiziert?"; sowie: Dr. Horst Friedrich, "Der große Irrtum: Zur Entstehung des Feldbaues"
- ↑ Quelle: Dr. David Whitehouse, op. cit. 2000
- ↑ Quelle: ebd.
- ↑ Siehe: Bernhard Beier, "Astronomie - eine uralte Wissenschaft!"
- ↑ Siehe: Reinhard Prahl, "Die Kenntnis der Trepanation - Ein weltweites Phänomen der Steinzeit"
- ↑ Siehe: Peter Marsh, "Die Clovis-Solutréen-Connection"
- ↑ Siehe: Ferdinand Speidel, "Die Wurzeln der Zivilisation - Zur Erinnerung an das bahnbrechende Werk von Alexander Marshack"; sowie: Reinhard Habeck,"Die 'unlesbaren' Schriften - Rätselhafte Glyphen der Vorzeit
- ↑ Siehe: Bernhard Beier, "Kartographiegeschichte und alternative Prähistorik - Auf den Spuren der prähistorischen >kartographischen Rhetorik<"
Bild-Quellen:
- 1) Fæ bei Wikimedia Commons, unter: File:The story of the greatest nations; a comprehensive history, extending from the earliest times to the present, founded on the most modern authorities, and including chronological summaries and (14596647427).jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
- 2) Libor Balák, "THE GRAVETTIAN OF MORAVIA – THE PAVLOVIAN and the Willendorf-Kostenkian", bei: Antropark
- 3) Libor Balák, "The era of the great European cultures of the Northern-type hunters - late GRAVETTIAN - The youngest phase of the Upper Paleolithic, 22,000–12,000 years ago", bei: Antropark
- 4) Dr. Olga Soffer; nach: Dr. David Whitehouse, Woven cloth dates back 27,000 years, 14. Juni 2000, bei BBC NEWS (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
- 5) Libor Balák, "THE GRAVETTIAN OF MORAVIA – THE PAVLOVIAN and the Willendorf-Kostenkian", bei: Antropark
- 6) Libor Balák, "The era of the great European cultures of the Northern-type hunters - THE CULTURE OF THE GRAVETTIAN - The Middle Upper Palaeolithic, 31,000–22,000 years ago", bei: Antropark
- 7) Libor Balák, ebd.