Lyktonia

Notizen zum Lokalisierungs-Problem der einer weiteren >Atlantide<

Abb. 1 Kronos/Saturn, der Göttervater und Herr des altertümlichen 'Goldenen Zeitalters', wird ebenso mit Lyktonia in Verbindung gebracht wie Seine Tochter Demeter/Ceres.

(bb) Lyktonia ist der antike Name eines mythisch-legendären Landes - möglicherweise einer Halb- oder Großinsel - das u.a. Erwähnung in der, allerdings erst in christlicher Zeit (in etwa 500 n.d.Z.) verfassten, Orphischen Argonautica findet. Dieses Land sei, wie man dort erfahren kann, von den Gewalten des Meeres in mehrere Inseln zerrissen worden. In mythisierter Darstellungsweise ist dort (v. 1276) zu lesen, "wie Neptun [Poseidon] es, im Zorn auf Jupiter [Zeus], mit seinem Dreizack schlug, und es über die weite See verstreute, womit seine Bruchstücke von da an zu Sardinien, Euboia und Zypern wurden." [1]

Diese Zuordnung Lyktonias zur prähistorischen Welt des Mittelmeer-Raumes steht allerdings durchaus zur Debatte. So heißt es auch in unserer Quelle, einem gelehrsamen Werk mit dem Titel "An enquiry into the primeval state of Europe" aus dem Jahr 1886, weiter: "Die letztgenannte, überspannte Vorstellung kann nicht zu der Geschichte in ihrer originalen Form gehört haben, sondern wurde zweifellos eingeführt, indem das Ereignis in das mittelländische Meer verlagert wurde; die Ähnlichkeit des Wortes Lyktonia mit Leuke, Leukas Petra und dem Lykaeischen Lande sowie das gleichartige, ihnen und der in der Nähe jener anderen Orte gelegenen 'Insel der Demeter' zugeschriebene Schicksal sind hinreichend, um sie gleichzusetzen." Dieser Vergleich zeigt, "dass Lyktonia ebenso wie Leuke >am äußersten Ende der Welt< lagen, wo sich auch >der heilige Sitz der Demeter< befand, welcher, dem übereinstimmenden Zeugnis des Artemidorus und der Argonautica gemäß, in der Nähe Britanniens gelegen war." [2]

Abb. 2 Die geographische Lage der Insel Samothrake in der Ägäis

Der Atlantipedia-Herausgeber Tony O’Connell, der allerdings bei seiner kurzen Betrachtung in Sachen Lyktonia in Bezug auf die Ursprünge der Legende lediglich alte Überlieferungen der Bewohner von bzw. im Zusammenhang mit Samothrake anführt, einer bergigen Insel in der nördlichen Ägäis (Abb. 2), vertritt dagegen eine eher konventionell-schulwissenschaftliche Ansicht:

"Ich möchte behaupten, es ist eine rationalere Erklärung, dass die Legende [von Poseidon als Zerschmetterer Lyktonias] sich auf die Überflutung dessen bezieht, was ist jetzt die Ägäis ist, während der jüngsten Eiszeit aber trockenes Land war. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass sich eine Legende aus Samothrake in der nördlichen Ägäis eher aus Erfahrungen in der eigenen Region heraus, statt von einem entfernten Land im relativ unbekannten Westen her entwickelt hat? Dies würde mit den Ansichten von Kurt Lambeck übereinstimmen, der noch einen Schritt weiter gegangen ist und vorgeschlagen hat, dass zu dieser Überflutung der Kykladen auch den Untergang von Atlantis gehörte." [3]

Abb. 3 Alexander von Humboldt (1769-1859) betrachtete Atlantis u.a. als einen weit nach Westen transponierten "Reflex" auf den angeblich älteren "Mythos von Lyktonia".

Tony O’Connell greift hier Überlegungen auf, die bereits Alexander von Humboldt (Abb. 3) - ebenfalls unter Einbeziehung des Atlantis-Problems - in seinem Werk "Kosmos - Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" an- bzw. vorstellte, wobei er zu folgendem Schluss kam: "Es ist nicht notwendig hier zu entscheiden, ob der Mythos der in Fragmente zerbrochenen Atlantis als ein entfernt liegender und westlicher Reflex auf jenen von Lyktonia zu betrachten ist (ich habe dies wie ich denke, an anderer Stelle als probabel aufgezeigt) oder ob, wie Gotfried Müller [4] erwägt, >die Zerstörung von Lyktonia (Leuconia) sich auf die samothrakische Überlieferung einer großen Flut bezieht, welche die Gestalt jener Gegend veränderte.<" [5]

Der Verfasser möchte hier entschieden sowohl Müller und O’Connell als auch Alexander von Humboldt widersprechen, denn angesichts des heutigen atlantologischen Forschungsstandes macht es weder Sinn, den platonischen Atlantisbericht als 'mythisch' (im Sinne einer gänzlich 'unhistorischen' Fabel) abzutun, noch besteht - was Lyktonia betrifft - die Notwendigkeit, sich zwischen mediterranen und atlantischen Ursprüngen dieser Legende zu entscheiden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sowohl uralte, als spärliches aber kulturell persistentes Relikt-Wissen aus 'grauer Vorzeit' bei den Völkern des Altertums erhalten gebliebene Überlieferungen katastrophischer Ereignisse in Ost (z.B. Ägäis und Schwarzmeer-Raum) und West (atlanto-mediterrane Gebiete sowie panatlantischer Großraum) in der Antike längst zu mythisierten Erzählungs-Konglomeraten verschmolzen waren, deren geographische wie chronologische Ursprünge nur noch nebelhaft verschwommen auszumachen sind.

In jedem Fall haben wir sowohl im Osten als auch im Westen mit einer ganzen Reihe weit prähistorischer 'Atlantiden' [6] im Sinne von J. Ortega y Gassets Definition derselben zu rechnen, also mit ".untergegangene[n] und völlig verschollene[n] Kulturen" [7] sowie Ländereien, sodass - zumindest in gewisser Weise - die ägäische Lokalisierung von Lyktonia durch Müller und O’Connell ebenso berechtigt und zutreffend sein könnte wie die atlantische des Nikolai Zhirov [8], welcher schlussfolgerte, "dass Lyktonia das Reich des Kronos (Abb. 1) war und vom Ozean verschlungen wurde. Er hebt hervor, dass sowohl griechische als auch römische Mythen Kronos (den römischen Saturn) mit einer großen Insel oder einem Kontinent im fernen Westen in Verbindung bringen. Er nimmt auch Bezug auf Hieronymus Müller [9], einen Autoren des 19. Jahrhunderts, der [...] Lyktonia unmittelbar mit Atlantis identifizierte." [10]


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: o.A., "An enquiry into the primeval state of Europe", London (Marlborough & Co.) / Bristol (J.R. Cheese), 1864, S. 62 (Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  2. Quelle: ebd., S. 62/63 (Hervorhebungen durch uns)
  3. Quelle: Tony O’Connell, "Lyktonia", 11. Juli 2010, in Atlantipedia.ie (abgerufen: 10. Oktober 2014; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  4. Red. Anmerkung: Gemeint ist anscheinend Carolus (Karl) Gotfried Müller, ein offenbar nicht unbedeutender Historiker des frühen 19. Jahrhunderts, der u.a. eine Abhandlung "Über die Wohnsitze, die Abstammung und die ältere Geschichte des Makedonischen Volks" (1825) vorlegte.
  5. Quelle: Alexander von Humboldt, "Cosmos: Sketch of a Physical Description of the Universe", Cambridge University Press, 2010, S. 119-120 (Rückübersetzung ins Deutsche sowie Hervorhebungen durch Atlantisforschung.de)
  6. Vergl. z.B., was die Sagen des Klassischen Altertums betrifft, auch Erytheia und Thrinakia
  7. Siehe: José Ortega y Gasset, "Über Atlantiden", in: Ders., "Die Aufgabe unserer Zeit", Stuttgart, 1930
  8. Siehe: N. Zhirov "Atlantis: Atlantology – Basic Problems", Honolulu (University Press of the Pacific), 2001
  9. Anmerkung: Über ihn heißt es bei Tony O’Connell an anderer Stelle: "Hieronymus (Jerome) Müller (1785-1861) war ein deutscher Philologe, der eine gut aufgenommene deutschsprachige Übersetzung von Platos Werken erstellte, die 1856 in Leipzig veröffentlicht wurde. Er ist dafür bekannt, Lyktonia mit Atlantis gleichgesetzt zu haben. Er sollte allerdings besser dafür bekannt sein, eine Schlüsselpassage (Tim. 24e) in Platos Text klargestellt zu haben, welche sich, wie viele englische Übersetzer behauptet haben, auf die physische Größe von Atlantis statt auf seine militärische Macht bezieht. Müllers Übersetzung besagt, dass Atlantis >eine Insel war, welche mächtiger war als Asien und Libyen zusammengenommen<." (Quelle; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  10. Quelle: Tony O’Connell, "Lyktonia", 11. Juli 2010, in Atlantipedia.ie (abgerufen: 10. Oktober 2014; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)

Bild-Quellen:

1) Beyond My Ken bei Wikimedia Commons, unter: File:Cronos armé de la faucille (harpè) contre son père et divers médaillons pierre gravée crop.jpg
2) Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: Samothraki (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)
3) Sebastian Nizan bei Wikimedia Commons, unter: File:Pickersgill humboldt.jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)