Urkultur

Anmerkungen zu einem höchst missverständlichen Begriff

Abb. 1 Zeichnung eines amerinden Patagoniers. (1881) Solche 'Naturvölker' betrachteten die Anhänger der 'Wiener Schule' als so genannte survivals einer vermeintlichen Urkultur.

(red) Der Begriff Urkultur (neuerdings auch: Ur-Kultur), ursprünglich im Kontext der Kulturkreislehre als ethnologischer Fachbegriff zur Beschreibung eines (vermeintlichen) urtümlichen Kulturstadiums oder -zustands der Menschheit entstanden, wird heute umgangssprachlich als Bezeichnung für vermutete, hoch entwickelte Kulturen der Vorzeit (Atlantis, Mu etc.) verwendet. [1]

Über den Begriff der Urkultur im Sinne von Wilhelm Schmidt, der zusammen mit Wilhelm Koppers die so genannten 'Wiener Schule' der Völkerkunde begründete und die Kulturkreislehre als Modell kultureller Evolution und der Verbreitung von Kulturelementen entwickelte, bemerkt die Ethnologin Dr. Elke Mader:

"In diesem Zusammenhang entstanden auch die Thesen über eine Urkultur, deren Charakteristika starke Entsprechungen mit den Prinzipien der christlichen Glaubenslehren aufweisen: Zu ihren wesentlichen Merkmalen zählen z.B. die Monogamie und der Monotheismus (Hochgottglauben). Ethnographische Forschungen im Rahmen der >Wiener Schule< konzentrierten sich auf jene >Naturvölker<, welche als survivals, als lebendige Überreste der Urkultur galten.

Dazu zählen vor allem Jäger und Sammler-Gesellschaften, wie etwa Buschmänner, Pygmäen, die Semang in Südoatasien und die Feuerland-Indianer. Feldforschungen bei diesen Kulturen hatten u.a. zum Ziel, die Thesen der „Wiener Schule" zu überprüfen bzw. zu beweisen ( z.B. Gusinde 1930 [2])." [3] Trotz der Unhaltbarkeit dieser argumentativ nur schwach untermauerten Vorstellung von Urkultur [4] hielt sie sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in der Ethnologie des deutschsprachigen Raums.

Mit urtümlicher Kultur befasste sich - etwa zur selben Zeit wie Schmidt und die Anhänger der 'Wiener Schule', oder jene der vom Afrika- und Atlantisforscher Leo Frobenius (1873-1938) begründeten 'Kulturkreislehre' - auch Anthropologen wie Grafton Elliot Smith und William James Perry (1887–1949), oder auch die Altorientalisten Hugo Winckler (1863-1913) und Alfred Jeremias (1864-1935) Ihre Beschäftigung mit 'Urkultur' orientierte sich allerings weniger an der Frage nach Natur oder auch Abfolge verschiedener angeblicher Kulturstufen der Menschheit.

Abb. 2 Ignatius Loyola Donnelly (1831-1901) etablierte Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung von Atlantis als 'Urkultur' der Menschheit.

Vielmehr waren sie alle auf der Suche nach einer vermeintlich ersten und einzigartigen Hochkultur bzw. Zivilisation, deren Kulturelemente (z.B. religiöse Vorstellungen oder auch Erfindungen und Entwicklungen aus dem Bereich materieller Kultur) sich von dem entsprechenden Ursprungsort aus über die ganze Welt verbreitet haben sollen. Bei Perry, Smith und anderen war dies das alte Ägypten, während Winckler und Jeremias Mesopotamien als 'Wiege der Zivilisation' ausmachten. Diese beiden Denkmodelle zur Verbreitung von Kultur und Zivilisation von einer einzigen 'Quelle' aus werden als monozentrischer bzw. 'heliozentrischer Diffusionismus' und Panbabylonismus bezeichnet.

In der schulwissenschaftlichen Fachliteratur zumeist unerwähnt bleibt der frühe atlantologische Diffusionismus, eine Spielart des monozentrischen Diffusionismus, die bereits in den 1880er Jahren von Ignatius Donnelly (1831-1901) ins Leben gerufen wurde. In seinem Werk "Atlantis - the Antediluvian World" postulierte er 1882, "daß Atlantis jene Region war, in welcher der Mensch zu allererst sich aus dem Zustande der Barbarei erhob und zur Zivilisation emporwuchs", und dass Elemente derselben sich von Atlantis aus panatlantisch in die Gebiete des "mexikanischen Golfes, des Mississipi, des Amazonenstromes, der Pazifikküste Südamerikas, des Mittelländischen Meeres, und ferner [an] die Küsten von Westeuropa und Westafrika, der Ostsee, des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres" verbreiteten. [5]

Dass der akademische Außenseiter Donnelly - dem zu Lebzeiten noch fast einhellig der Status eines Gelehrten zugebilligt wurde, während er später auf oberlehrerhafte Geringschätzung stieß, und heute sowohl von halbgebildeten Laien als auch von Fachwissenschaftlern als eine Art 'pseudowissenschaftlicher Popanz' dargestellt wird - mit seiner Vorstellung einer atlantidischen Urkultur im universitären Bezirk zu keiner Zeit wirklich ernst genommen wurde, ist eine wissenschaftsgeschichtliche 'Binsenweisheit'. Aber auch die anderen erwähnten, von renommierten Wissenschaftlern vertretenen Modelle (Heliozentrismus und Panbabylonismus) waren nur mehr oder weniger kurzlebige 'Modeerscheinungen', denn nach und nach wurde in der 'Welt der Wissenschaft' klar, dass die - ideengeschichtlich auf dem biblischen Bericht über die Verbreitung der Menschheit nach Adams und Evas Vertreibung aus dem 'Paradies' beruhende - Vorstellung einer einzigen ('singulären') "Wiege der Zivilisation" unsinnig ist. [6]

Diese Erkenntnis setzte sich ab etwa 1940 [7] übrigens langsam auch in der nonkonformistischen Atlantisforschung durch. In der heutigen alternativen Ur- und Frühgeschichtsforschung, die sich zumeist an der Vorstellung einer "kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Tiefenzeit" [8] orientiert, macht der Begriff der Urkultur ohnehin nur noch in der Mehrzahl Sinn. Die Annahme, dass es - lange vor den bisher bekannten, frühen Kulturen der Alten und der Neuen Welt - bereits diverse Urkulturen gegeben haben muss; lässt sich heute zumindest ausreichend genug belegen, um entsprechende Forschung zu rechtfertigen; die Suche nach einer 'ersten', initialen Menschheitskultur muss jedoch angesichts des archäologischen "Vergänglichkeits-Horizontes" als sinnloses Unterfangen erscheinen.

Um daher eine größere terminologische Klarheit zu schaffen, was die Erforschung vermuteter entwickelter Kulturen des späten Paläolithikums in den pazifischen und atlantischen Großräumen angeht, welche den allgemein bekannte Hochkulturen als Vorläufer vorausgingen, wurden für die Alternative Ur- und Frühgeschichtsforschung im deutschen Sprachraum inzwischen als Alternativen zum Ausdruck Urkultur die Fachbegriffe Mutter- oder Parentalkultur (Prahl, 2005; Beier, 2014) als Bezeichnungen vorgeschlagen.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe z.B.: o.A., "Forscher suchen eine Ur-Kultur", PM History (undatiert), 2005 (abgerufen: 08.02.2014); aber auch schon: Ekkehard Hieronymus, "Der Traum von den Urkulturen: Vorgeschichte als Sinngebung der Gegenwart?" (Vortrag, gehalten an dem Mentorenabend der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München-Nymphenburg am 16. April 1975), Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1984
  2. Siehe: Martin Gusinde (1930), "Das Brüderpaar in der südamerikanischen Mythologie", in: Acta des 23. Internationalen Kongresses der Americanisten (New York 1928): 687-689
  3. Quelle: Univ. Doz. Dr. Elke Mader, "Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas - Eine Einführung", 2.3.1 "Urkultur" in Feuerland, Universität Wien (Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie); abgerufen: 08.02.2014
  4. Siehe dazu etwa: Marie-France Chevron, "Anpassung und Entwicklung in Evolution und Kulturwandel: Erkenntnisse aus der Wissenschaftsgeschichte für die Forschung der Gegenwart und eine Erinnerung an das Werk A. Bastians", LIT Verlag Münster, 2004, S. 197ff.
  5. Quelle: Ignatius Donnelly, "Atlantis - Die vorsintflutliche Welt", Eßlingen, 1911, S. 3-4; siehe dazu bei Atlantisforschung.de: "Die 13 Thesen des Ignatius Donnelly" (red)
  6. Anmerkung: Trotzdem 'spukt' diese Vorstellung - gerade was Mesopotamien betrifft - nach wie vor in vielen Köpfen herum. Siehe z.B.: o.A., "Mesopotamien – Die Wiege der Zivilisation" (nach: Altbabylonische Briefe Bd. 2, Nr. 67), bei: bethnahrin.de; sowie: o.A., "Die Wiege der Zivilisation", bei: ancient cultures.com (beide abgerufen: 10.02.2014)
  7. Siehe z.B.: Robert B. Stacy-Judd, "Atlantis: Mother of Empires" [der Titel ist durchaus irreführend!; d. Red.], Los Angeles (De Vorse & Co.), 1939; 1999 Neuauflage als Reprint des Originals bei Adventures Unlimited Press (Kempton, Illinois), ISBN 0-932813-69-0 --- Anmerkung: Stacy-Judd war der erste Atlantisforscher aus der 'Schule' des Ignatius Donnelly ('Atlantiker'), der dessen atlantologischen Diffusionismus in einer modifizierten und aktualisierten Variation vom 'Kopf auf die Füße' stellte, und in vielen Punkten bereits Positionen der heutigen alternativen Ur- und Frühgeschichtsforschung vorwegnahm.
  8. Anmerkung: Gemeint ist die begründete Annahme, dass die Kultur- und Zivilisationsgeschichte der Menscheit weitaus älter ist als bisher von der universitären Forschung zugestanden, und möglicherweise sogar zehntausende oder hunderttausende von Jahren zurückreicht. Siehe dazu z.B.: Michael Cremo und Richard L. Thompson, "Verbotene Archäologie - Sensationelle Funde verändern die Welt", Bechtermünz, 1996; sowie: Michael Brandt, "Vergessene Archäologie - Steinwerkzeuge fast so alt wie die Dinosaurier, SCM Hänssler im Verlag SCM GmbH & Co. KG, 2011]

Bild-Quellen:

1) Ineuw bei Wikimedia Commons, unter: File:PSM V19 D304 Patagonian and bushman.jpg
2) Bobak bei Wikimedia Commons, unter: File:IgnatiusDonnelly1898.jpg