Kretominoische Atlantis-Hypothesen
von Tony O’Connell
Die Minoer-Hypothese sieht einen Ursprung von Platos Atlantis im östlichen Mittelmeer vor, mit Zentrum auf den Inseln Thera und/oder Kreta. (Abb. 1) Der Begriff ‘Minoer’ - nach dem mythischen König Minos - wurde geprägt von dem berühmten Archäologen Sir Arthur Evans. Es wird angenommen [1], dass der Einflussbereich der Minoer sich bereits um 3000 v.d.Z. bis zur Iberischen Halbinsel erstreckt habe, und sich in den Spuren dessen widerspiegelt, was heute als Kultur von Los Millares bekannt ist. [2]
Der Ursprung der Minoer-Hypothese geht zurück auf das Jahr 1872, als Louis Guillaume Figuier (Abb. 2) der erste war, der vorschlug, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Thera-Eruption und Platos Atlantis. [3] Der verheerende Ausbruch des Krakatau von 1883 inspirierte dann Auguste Nicaise dazu, Figuiers Theorie im Jahr 1885 in einem Vortrag [4] in Paris auszubauen.
Die Minoer-Hypothese schlägt vor, dass die Eruption(en) des Vulkans Thera im 2. Jahrtausend v.d.Z. die Zerstörung von Atlantis mit sich brachten. K.T. Frost und James Baikie umrissen 1909 respektive 1910 Argumente zur Gleichsetzung the Minoer mit den Atlantiern, Jahrzehnte bevor das Ausmaß der Thera-Eruption von der modernen Wissenschaft vollständig wahrgenommen wurde.
Unterstützer der Vorstellung eines minoischen Atlantis behaupten, dass Plato, als er über Atlantis schrieb, es sei größer als Libyen und Asien zusammen gewesen, bei seiner Transkription meson (zwischen) zu meizon (größer) verfälscht habe, was wohl aus ägyptischer Perspektive Sinn machen könnte, da Kreta sich, von dort aus gesehen, zwischen Libyen und Asien befindet, wobei es schwieriger wird, diese Interpretation für Thera in Anwendung zu bringen, das sich weiter nördlich befindet, und korrekt als zwischen Athen und Asien liegend zu beschreiben wäre. Thorwald C. Franke hat eine verständigere Erklärung für diese umstrittene Formulierung vorgeschlagen, indem er hervorhebt, dass "für Ägypter die Welt ihrer ‘traditionellen’ Feinde zweigeteilt war: Im Westen standen die Libyer, und im Osten gab es die Asiaten. Wenn ein ägyptischer Schreiber aussagen wollte, dass ein Feind gefährlicher war als die ‘üblichen’ Gegner, was bei der 'Seevölker’-Invasion der Fall war, dann würde er höchst whrscheinlich gesagt haben, dass dieser Feind >mächtiger als Libyen und Asien zusammengenommen< gewesen sei."
Die größten Befürworter der Minoer-Hypothese waren wohl Angelos G. Galanopulos und Edward Bacon. [5] Andere, wie etwa J.V. Luce und James Mavor, zeigten sich von ihren Argumenten beeindruckt, und sogar Jacques Cousteau erkundete das Seegebiet um Santorin herum. [6] Eine 2008 gesendete Dokumentation mit dem Titel 'Sinking Atlantis' behandelte den Untergang der minoischen Zivilisation. Eine Transkription des Programms kann online nachgelesen werden. [7]
In der breiten Öffentlichkeit ist die Minoer-Hypothese noch immer eine der populärsten Vorstellungen zu Atlantis, obwohl sie mit vielen Elementen in Platos Bericht kollidiert. Ein paar Beispiele dafür sind: wo waren die 'Säulen des Herakles'? Wie konnte Kreta/Thera eine Armee von einer Million Männern versorgen? Wo waren die Elefanten? Es gibt keinen Beweis dafür, dass es auf Kreta von Wällen umgebene Städte gab, wie Plato sie beschrieben hat. Die Schiffe der Minoer waren relativ leicht und erforderten keine riesigen Häfen, wie im Atlantisbericht beschrieben.
Frank Joseph hat kritisiert, die Unterstützung der Minoer-Hypothese durch griechische Archäologen sei eher durch Nationalismus motiviert als durch ernsthafte wissenschaftliche Ermittlungen. Dies scheint die Tatsache zu ignorieren, dass Nicaise und Figuier Franzosen waren; Frost, Baikie und Bacon waren Briten, Luce war Ire und Mavor ein Amerikaner. [8]
Eberhard Zangger, der Troja als Atlantis favorisiert, verwirft vehement [9] die Vorstellung, dass der Thera-Ausbruch verantwortlich für den Kollaps der minoischen Zivilisation der ‘Neu-Palastzeit' um 1500 v.d.Z. gewesen sei. Des weiteren ist Kreta ganz eindeutig nicht in den Wellen versunken. Henry Eichner kommentierte die Minoer-Hypothese höchst vielsagend mit der Fragestellung, warum Platon, sofern denn sein Atlantis Bezug auf Kreta genommen habe, dies nicht auch so gesagt habe. [10]
Inzwischen ist Gavin Menzies (Abb. 4) zum neuen 'Bannerträger' der Minoer-Hypothese geworden. In The Lost Empire of Atlantis [11] argumentiert er für ein riesiges Minoer-Imperium, das sich über das gesamte Mittelmeer erstreckte, und sogar Amerika entdeckte (S.245). Er geht sogar noch weiter und behauptet, dass Minoer die gewaltigen Kupfervorräte Michigans [12] ausbeuteten, und das Erz mit Flößen den Mississippi hinab schafften, um es zu bearbeiten, bevor sie es exportierten, um den Bedarf der mediterranen Bronze-Industrie zu decken.
Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Tony O’Connell wurde in der englischsprachigen Originalfassung erstmals am 10 Juni 2010 in der Online-Enzyklopädie Atlantiopedia unter dem Titel "Minoan Hypothesis" veröffentlicht. Bei Atlantisforschung.de erscheint er (02.12.2012) in deutschsprachiger Übersetzung als redaktionell überarbeitete Neufassung.
Einzelverweise:
- ↑ Siehe: W. Sheppard Baird, "minoanatlantis.com", 02.02.2008 (abgerufen: 01.12.2012)
- ↑ Red. Anmerkung: Siehe zu dieser bei Atlantisforschung.de auch: "Los Millares - eine atlantische Metropole im Land des Gadeiros" (H. Tributsch)
- ↑ Siehe: Louis Guillaume Figuier, "La Terre et les Mers", Paris, 1872
- ↑ Siehe: Auguste Nicaise, "Les Terres disparues - L’Atlantide, Théra, Krakatoa, 1885
- ↑ Red. Anmerkung: Tony O’Connell übersieht hier die herausragende Bedeutung des Archäologen Spyridon Marinatos (1901-1974), der die Minoer-Hypothese, als deren Wortführer er lange Zeit galt, in wissenschaftlichen Kreisen - genauer gesagt: in jenen Teilen der scientific community, die nicht dem akademischen Atlantismythos verfallen waren - 'salonfähig' machte. Erst nach Marinatos´ Tod (er starb 1974 bei einem Arbeitsunfall während archäologische Ausgrabungen bei Akrotiri auf Kreta) avancierte A. Galanopulos zur neuen 'Leitfigur' der 'Minoer-Fraktion' unter den universitären Atlantisforschern.
- ↑ Red. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de auch den Beitrag: "Das atlantologische 'Gastspiel' des Jacques-Yves Cousteau" (bb)
- ↑ Red. Anmerkung: Diese 'Dokumentation' ist übrigens ein Musterbeispiel für das offenkundige Bemühen mancher Fans und Verfechter des 'ägäischen Atlantis', die - letztlich auf äußerst schwachen Füßen stehende - Minoer-Hypothese als einzige wissenschaftlich zulässige Lösung des Atlantis-Problems und quasi als 'bewiesene Tatsache' darzustellen.
- ↑ Red. Anmerkung: Trotzdem ist F. Josephs Vorhaltung keineswegs unberechtigt. In der Tat werden entsprechende 'Atlantisforschungen' in Griechenland traditionell als Angelegenheit des 'nationalen Interesses' betrachtet und - zur Stützung eines durchaus chauvinistischen, graecozentrischen Geschichtsbildes - von den Behörden z.T. sogar massiv gefördert (alleine Cousteaus sinnlose 'Odyssee' durch die Gewässer Theras hat die griechischen Steuerzahler damals umgerechnet 1,8 Millionen Dollar gekostet!). Andererseits ist der Wissenschaftsmythos 'Thera = Atlantis' zu einem der Stützpfeiler einer enormen Fremdenverkehrs-Industrie in der Ägäis geworden, auf die dort niemand verzichten kann und will. Gerade die Bevölkerung der Insel Santorin (Thera) lebt heute fast ausschließlich vom Tourismus! Schon aus diesem Grund darf 'Thera-Atlantis' nicht sterben, sondern wird nicht zuletzt auch durch gelegentliche Aufrritte 'linientreuer' Archäologen in den Medien am Leben gehalten.
- ↑ Siehe: Eberhard Zangger, "The Future of the Past: Archaeology in the 21st Century", Weidenfeld, 2001
- ↑ Red. Anmerkung: Weitere scharfe Kritik an der Vorstellung eines kretominoschen Atlantis übten u.a. der Altphilologe J. Rufus Fears und - im Lager der Atlantisforscher - Jürgen Spanuth (siehe: "Jürgen Spanuth über 'Atlantis in der Ägäis'")
- ↑ Siehe: Gavin Menzies, "The Lost Empire of Atlantis", New York (Harper Collins), 2011 --- Siehe dazu auch die Rezension von Dr. Horst Friedrich
- ↑ Red. Anmerkung: Siehe zum präkolumbischen Bergbau in Michigan bei Atlantisforschung.de einführend: "Gesucht: 500 000 Tonnen Kupfer" von William R. Corliss; weiterführend dazu auch extern: Michigan Copper in the Mediterranean. By Jay Stuart Wakefield, MES & AAPF, bei: grahamhancock.com
Bild-Quellen:
- 2) Felix Nadar (Fotograph), veröffentlicht in: Nachruf auf Figuier in der New York Times am 10. November 1894; nach: Biblio-Dots
- 4) Case Western University, Ohio, unter: NHD (Bildbearbeitung durch Atlantisforschung.de)