Karibik

Eine atlantologische Einführung

Abb. 1 Eine historische Karte des Karibischen Meeres aus Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1907

(bb) Die Karibik bzw. das sie definierende Meeresgebiet (Abb. 1) gehört zu jenen globalen Großräumen, die von einer genzen Reihe nonkonformistischer Atlantisforschern als Heimstätte des versunkenen Vorzeit-Reiches betrachtet wird, das Platon einst in seinen Dialogen Timaios und Kritias beschrieben hat. Aber bevor wir darauf eingehen, sollten wir uns zunächst kurz mit den geographischen Gegebenheiten dieses Gebiets im atlantischen Westen vertraut machen. Dazu werfen wir einen Blick in eines der schönen alten Lexika, aus denen bildungshungrige Menschen lange vor Beginn des Internet-Zeitalters ihr Wissen über die Welt bezogen haben. In diesem Fall nutzen wir Meyers Großes Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1907, in welchem wir dazu folgendes lesen:

"Karibisches Meer (Antillenmeer), das durch die Antillen abgegrenzte Teilmeer des Atlantischen Ozeans, das die festländische Küste von Mittel- und Südamerika bespült und durch die 120 km breite Yucatanstraße mit dem Golf von Mexiko verbunden ist. Die Äquatorialströmung tritt durch die Meerstraßen zwischen den Kleinen Antillen in das Meer ein, während durch die Yucatanstraße eine Abströmung in den Mexikanischen Golf stattfindet. [...] Das Karibische Meer besteht aus zwei Becken, die durch eine von Untiefen und Bänken besetzte submarine Halbinsel getrennt werden, die sich von Honduras-Nicaragua aus nach NO. erstreckt und an ihrem äußersten Ende die Insel Jamaika trägt. Das größere, östliche Becken ist in der Curassao-Tiefe 5201 m, sonst meist 3–4000 m, am Ost- und Westende [...] nur 1000–2000 m tief, während das kleinere, westliche Becken in der Bartlett-Tiefe 6269, in der Yucatan-Tiefe über 4000 m erreicht." [1]

Abb. 2 Die Vorstellung eines karibo-amerikanischen Atlantis kam erstmals im 'Zeitalter der Entdeckungen' auf. (Artwork: Lars A. Fischinger)

Nach diesem kurzen Exkurs zur Geographie und Topographie der Karibk wenden wir uns nun der Frage nach den historischen Ursprüngen der dortigen Atlantis-Lokalisierung zu. Dazu müssen wir eine kleine 'Zeitreise' in die Rennaicance bzw. ins sogenannte 'Zeitalter der Entdeckungen' unternehmen, genauer gesagt in den Zeitraum nach der - je nach Standpunkt - Entdeckung oder Wiederentdeckung Amerikas durch europäische Forschungsreisende und Abenteurer. Damals wurde gerade im Bereich der neulateinischen Kolumbus-Epik "gerne und häufig auf den platonischen Atlantis-Mythos [sic!; bb] zurückgegriffen; in einigen Epen werden Atlantis und Amerika sogar gleichgesetzt." [2]

Abb. 3 Der italienische Arzt Girolamo Fracastoro (1478-1553) brachte im Jahr 1530 erstmals die Karibik mit Atlantis in Verbindung.

In diesem Zusammenhang fand Atlantis erstmals im 1530 erschienenen umfänglichen Lehrgedicht Syphilis sive Morbus gallicus [3] des italienischen Arztes Girolamo Fracastoro (Abb. 3) Erwähnung. Darin erzählt Fracastoro u.a. über eine - vermutlich von ihm erfundenen - Begegnung von Kolumbus und einem Kaziken (bei Fracastoro: "König") der Kariben. In deren Verlauf stellt jener Herrscher dem fremden Besucher sein Volk als Abkömmlinge der Atlantier vor und berichtet über das Schicksal seiner Urheimat und ihrer Bewohner:

"Ach, ein einst glückliches Geschlecht, das den Göttern lieb war, solange unsere tüchtigen Ahnen den Himmel zu verehren und die Gaben der Unsterblichen zu vergelten pflegten. Aber, nachdem man in der Verschwendung und dem Hochmut der Nachkommen begonnen hatte. die göttlichen Mächte zu verachten - kaum könnte ich je mit Worten fassen, was für und welch große Mühsal hiernach die Unglücklichen heimsuchte. Bald stürzte die Insel, die nach dem Namen des alten Königs Atlantis hieß, zusammen, erschüttert durch ein ungeheures Erdbeben, und wurde vom Ozean verschlungen. den sie, die Königin von Land und Meer, so viele Male mit tausend Schiffen durchfurcht hatte. Vieh und viefüßige Tiere von ungeheurer Größe gingen für immer unwiederbringlich zugrunde..." [4]

Abb. 4 Abbildung einer Kariben-Hamilie aus dem 19. Jahrhundert von John Gabriel Stedman (1818)

Wie schon gesagt, war die Rahmenhandlung dieses 'Berichts', den Fracastoro unter Rückgriff auf Platons Atlantiserzählung 1530 zu Papier gebracht hat, vermutlich von ihm erfunden, und auch was die Verwendung der Bezeichnung 'Atlantis' angeht, so ist diese augenscheinlich dem klassischen Atlantisbericht entlehnt. Die lebhafte Darstellung einer kataklysmischen Zäsur in der Urgeschichte der Kariben scheint jedoch keineswegs ein Produkt seiner Phantasie oder simple Adaption der Aussagen Platons gewesen zu sein.

Abb. 5 Der 'Antillenbogen' (Große und Kleine Antillen) stellt heute ein langgestrecktes Archipel aus vielen Inseln, Inselchen und Untiefen dar. Aber war dies auch in mehr oder weniger ferner Vergangenheit der Fall?

Hören wir dazu Andrew Collins, der seinerseits Geoffrey Ashe verweist und sich wie dieser auf Paul Gaffarel bezieht, einen französischen Historiker des 19. Jahrhunderts, welcher eine Professur an der damaligen Universität Dijon innehatte und im Jahr 1892 ein Werk mit dem Titel Histoire de la découverte de l'Amérique (Geschichte der Entdeckung Amerikas) veröffentlichte: "Gaffarel schreibt, die ersten spanischen Entdecker hätten nach ihrer Ankunft auf den Kleinen Antillen von den Eingeorenen dort gehört, >die Antillen hätten einst einen einzigen Kontinent gebildet und seien dann durch Fluten plötzlich voneinander getrennt worden<. [5] Er berichtet auch von einer Legende der eingeborenen Bevölkerung von Haiti, nach der die Antillen (Abb. 5) durch eine plötzliche Flut entstanden sind. [6] [7] Es ist also gut möglich dass Girolamo Fracastoro Zugriff auf entsprechende spanische Quellen hatte, deren Inhalte er in seinem Werk verarbeitete.

Abb. 6 Der schottische Klassische Philologe, Ethnologe und Mythograph Sir James George Frazer (1854-1941) gehört zu jenen Gelehrten, die zur Dokumentation der karibischen Sintflut-Legenden beigetragen haben.

Dass die Kariben noch in jüngster Vergangenheit über sagenhafte Überlieferungen zu einer kataklymischen 'Sintflut' verfügten, düfte angesichts der historischen Belege kaum zu bezweifeln sein. So greifen Collins bzw. Ashe auf eine weitere gelehrsame Quelle zurück, nämlich auf ein Buch des schottischen Ethnologen, Mythographen und Klassischen Philologen Sir James George Frazer (Abb. 6) mit dem Titel Folklore in the Old Testament, in dem es heißt: "Die Kariben besaßen eine Überlieferung, nach welcher der Herr der Geister im Zorn über ihre Vorfahren, da diese ihm nicht die ihm zustehenden Opfer gebracht hatten, so schwere, mehrere Tage andauernde Regenfälle brachte, dass das ganze Volk ertrank. Nur wenige konnten überleben, indem sie in Kanus auf einen einsamen Berg entkamen. Diese Sintflut, so sagen die Kariber, habe ihre Inseln vom Festland getrennt und die Hügel und und spitzen Zuckerhutberge ihres Landes geschaffen." [8]

Abb. 7 Auch auf der 'paradiesischen' Karibik-Insel Grenada (hier ein Foto der dortigen Antoine Bay) gibt es Überlieferungen über einen Kataklysmus, der einst die Karibik verheerte. Grenade aber soll erst im Verlauf dieses Ereignisses entstanden sein.

Harold T. Wilkins hielt Mitte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe solcher Überlieferungen fest, wozu wir uns hier auf ein einzelnes Beispiel beschränken wollen, da wir an anderer Stelle schon sehr ausführlich auf seine diesbezügliche Berichterstattung eingegangen sind: "Ein alter Schwarzer aus dem Oberland Grenadas (Abb. 7), Westindien, wusste auch einiges zu der altertümlichen Gold-Straße zu berichten, die sich über Land von Südamerika bis zum Land Iere erstreckte. [...] Der alte Mann sagte: >Es gibt auf den Westindischen Inseln nur wenige Schlangen, weil ein großer König sie einst verwünschte, nachdem eine ihn gebissen hatte. Und all die Schlangen zogen nach Süden, die Goldene Straße hinunter, zu den Alten Stätten.<" U.a. heißt es in dieser Erzählung zudem, dass besagte " Goldstraße zu einer sehr weit zurückliegenden Zeit gehörte, als Gold aus dem Süden hinauf kam, und als Trinidad und alle anderen Orte Westindiens >ein einziges großes Land waren<. Sein alter Großvater hatte [...] gesagt, dass Grenada nicht zu dem >Großen Land< gehörte, sondern post-kataklysmischen Ursprungs war. Oder, um es mit den Worten des alten Schwarzen zu sagen: >Er sagt [...], dass es, als alles barst, wie bei einem Vulkan [-Ausbruch ablief], nur dass es wie viele Vulkane auf einmal war, und dann wurde das Große Land vom Wasser bedeckt und Grenada stieg aus der See auf, um den Menschen zu helfen, sich vor den Wassern zu retten. So war das auch mit den Karibiern. daher stammen sie.<" [9]

Abb. 8 Eine etwa 1639 entstandene nautische Karte der Insel Hispaniola von Johannes Vingboons.

Nach diesem Abstecher in die Welt der altkaribischen Sintflut- und Katastrophen-Legenden kommen wir nun wieder zurück zu unserer atlantologie-historischen Betrachtung der Karibik. Dazu sollten wir kurz festhalten, dass dieser Großraum nach Girolamo Fracastoro für längere Zeit - aus atlantologischem Blickwinkel - keine Rolle mehr gespielt zu haben scheint. Natürlich waren die Neue Welt und gerade Mittelamerika auch weiterhin bedeutsam, was Ansätze zur Lokalisierung von Platons Atlantis betrifft, doch diesbezüglich konzentierte man sich in der Hauptsache auf das Festland, wo nach und nach die beeindruckenden Relikte der alten mesoamerikanischen Kulturen entdeckt oder wiederentdeckt wurden, welche man mit dem verschollenen Atlanter-Reich in direkte Verbindung brachte.

Erst im späten 18. Jahrhundert findet sich mit Paul Felix Cabrera, einem damals in Guatemala lebenden Arzt, wieder ein Autor, der einen direkten Bezug der Karibik zu Atlantis herstellte. 1796 lokalisierte er nämlich das Zentrum des Atlantier-Domäne auf der Insel Hispaniola (Abb. 8), die zu den Großen Antillen gehört.

Danach wurde es im Bereich der Atlantisforschung noch einmal recht 'still' um die Karibik, bis in den späten 1960er Jahren ein regelrechter Atlantis-Hype losbrach, dessen Gegenstand die Bahamas waren, die ebenfalls zu den Westindischen Inseln gehören und der Karibik zugerechnet werden, obwohl sie schon im Bereich des offenen Atlantiks liegen. [10] Was die Bahamas betrifft, behandeln wir sie - schon aufgrund der ungeheuren Materialfülle zu dieser speziellen Region der Karibik - in einer eigenständigen Sektion [11] von Atlantisforschung.de und gehen hier auch nicht weiter auf sie ein.

Ansonsten ist festzustellen, dass sich die Hypothesen-Gruppe weiterer Atlantis-Lokalisierungen in der Karibik, obschon etwas im Schatten der 'Bahama-Atlantologie' sowie der traditionellen Schulen stehend, deren Anhänger Atlantis im Atlantik oder im Mittelmeer-Raum vermuten, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer 'festen Größe' im breit gefächerten Sprektrum der Atlantisforschung entwickelt hat. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei z.B. die Studien des italienischen Mathematik-Professors Emilio Spedicato von der Universität Bergamo auf sich gezogen, der die alte Annahme von Paul Felix Cabrera neu belebt hat, Spuren von Atlantis seien auf Hispaniola zu suchen und zu finden. Unangefochtener 'Champion' der Suche nach Atlantis in der Karibik ist - jedenfalls die öffentliche Aufmerksamkeit betreffend - seit inzwischen 20 Jahren [12] der britische Privatforscher und Buchautor Andrew Collins, der das ebenfalls zu den Großen Antillen zählende Archipel von Kuba als Überrest von Atlantis ausmacht.


Beiträge in dieser Sektion:


Forscher, die Atlantis in der Karibik vermuten:


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikonn, Band 10. Leipzig 1907, S. 625, Stichwort: "Karibisches Meer" (online bei Zeno.org)
  2. Quelle: Reinhold F. Glei und Robert Seidel, ">Parodia< und Parodie - Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit", Verlag Walter de Gruyter, 14.02.2012, S. 10
  3. Siehe: Girolamo Fracastoro, "Syphilis sive Morbus gallicus" Bd. 3, 1530 (bei Google books ist die Ausgabe des Werks von 1536 online. In deutscher Sprache: Georg Wöhrle (Hrsg. und Übersetzer): Girolamo Frascatoro, "Lehrgedicht über die Syphilis", Otto Harrassowitz Verlag, 1993
  4. Quelle: Girolamo Fracastoro (1530), zit. nach der Übersetzung ins Deutsche durch Georg Wöhrle (1993), S. 91
  5. Siehe: Paul Gaffarel, "Histoire de la découverte de l'Amérique", Bd. 1, S. 18
  6. Siehe: ebd., S. 19
  7. Quelle; Andrew Collins, "Neue Beweise für Atlantis", Bern, München, Wien (Scherz Verlag), 2001, S. 232
  8. Quelle:James George Frazer, "Folk-Lore in the Old Testament: Studies in Comparative Religion, Legend and Law" (1919), Bd. 1, S. 18; nach Andrew Collins, op. cit.
  9. Quelle: Harold T. Wilkins, "Secret Cities of old South America", aus der ATLANTIS REPRINT SERIES bei ADVENTURES UNLIMITED PRESS, Kempton, Illinois (USA), July 1998 [Erstveröffentl. 1952], S. 66-67
  10. Quelle: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, unter: "Bahamas" (abgerufen: 02. Februar 2020)
  11. Siehe: "Die Bahamas und Atlantis: Der Streit um Bimini - Die Bahamas als atlantologischer Forschungs-Gegenstand" (red)
  12. Anmerkung: Im Jahr 2000 erschien Andrew Collins’ Bestseller 'Gateway to Atlantis', mit dem er seine Atlantis-Lokalisierung weltweit bekannt machte.

Bild-Quelle:

1) Karte "Westindien und Mittelamerika", in Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909
2) Lars A. Fischinger, "Atlantis der Karibik: Die Rätsel von Bimini" bei Fischinger Online
3) Nicolas de Larmessin (1632–1694), nach: Tony O’Connell, Frascastoro, Girolamo, bei: Atlantipedia.ie
4) John Gabriel Stedman (Urheber) / Jan Arkesteijn (Uploader) bei Wikimedia Commons, unter: File:Carib indian family by John Gabriel Stedman.jpg
5) M.Minderhoud (Urheber & Bearbeiter) bei Wikimedia Commons, unter: Datei:Caribbean - Antilles.PNG
6) Adam sk~commonswiki (Uploader) bei Wikimedia Commons, unter File:JamesGeorgeFrazer.jpg
7) Stefan_und_Bille (Urheber) bei Wikimedia Commons, unter File:Grenada Antoine Bay - panoramio.jpg (Lizenz: Creative-Commons. „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“)
8) Johannes Vingboons (1616/1617–1670) (Urheber) / Durova (Uploader/in) bei Wikimedia Commons, unter: File:Hispaniola Vinckeboons4.jpg